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Ein zentraler Unterschied von agilen Vorgehensmodellen zu klassischen Vorgehensmodellen liegt in der Durchführung von kleinen Iterationen und schnellen Feedback-Loops. Die Ursache hierfür liegt in einer sich immer schneller verändernden Welt, in der auch die Änderungsgeschwindigkeit von Anforderungen drastisch zunimmt. Damit ist nicht mehr gewährleistet, dass die eingangs aufgestellten Annahmen und Anforderungen an ein Produkt im Laufe des Konzeptions- und Entwicklungszeitraums identisch bleiben.
Um sich in einem volatilen Umfeld permanent zu hinterfragen, ob
- sich die Ausrichtung des Produktes noch an den Bedürfnissen des Marktes orientiert,
- die eigene Vorgehensweise noch die richtige ist,
- wir als Team(s) performant und kollaborativ arbeiten und
- wie unsere technische Exzellenz verbessert werden kann,
gibt es das Format der Retrospektive. Gerade im Framework Scrum ist sie ein essentieller Event – aber auch in Kanban ein wichtiger Aspekt, wenn auch nicht formal vorgegeben.
5 Schritte einer agilen Retrospektive
In Ihrem Buch Agile Retrospectives beschreiben Esther Derby und Diana Larsen ein fünfstufiges Vorgehensmodell zur Durchführung von Retrospektiven, das sich in vielen Teams und Organisationen bewährt hat und das unter anderem dem Online-Projekt retromat.org als Grundlage gedient hat.
- Phase 1: Set the stage
Die Teilnehmer werden aus ihrem bestehenden Alltag mit seinen Herausforderungen und Gedanken gelöst und damit eine „Bühne“ für einen offenen und unvoreingenommenen Austausch geboten. - Phase 2: Gather data
Nachdem die Teilnehmer angekommen sind, geht es in diesem Schritt um die Sammlung von Inhalten, Problemen, guten – wie schlechten – Erfahrungen. Also allgemein gesprochen um die Sammlung der Dinge, die die Teilnehmer im zurückliegenden Zeitraum beschäftigten. - Phase 3: Generate Insights
Bei den zuvor gesammelten Punkten wird nach den tiefer liegenden Ursachen „gegraben“. - Phase 4: Decide what to do
In diesem Schritt wird nach Lösungsansätzen gesucht, die helfen sollen, die Probleme und Herausforderungen zu adressieren und damit zu einer kontinuierlichen Verbesserung beizutragen.
=> Ganz nach dem Motto „inspect & adapt“. - Phase 5: Close the Retrospective
Um die Teilnehmer nicht einfach so zu entlassen und auch für das durchgeführte Retrospektiven-Format ebenfalls Feedback zu erhalten, wie sie in Zukunft verbessert werden kann, soll dieser Schritt dienen.
Grundidee von Design Thinking
Die Idee hinter Design Thinking ist eine Herangehensweise, sich in neuem Terrain mit unbekannten Problemstellungen mittels eines strukturierten Vorgehensmodells auseinanderzusetzen, das folgende Phasen durchläuft:
- Empathize
- Define
- Point of View
- Ideate
- Prototype
- Test
Getrennte Spaces für Probleme und Lösungen
Dabei beleuchten die Vorgehensweisen in diesen sechs Phasen zwei wesentliche Betrachtungswinkel: Den Problem-Space und den Solution-Space. Während sich die Phasen Empathize, Define und Point of View im Problem-Space abspielen, machen dies die Phasen Ideate, Prototype und Test im Solution-Space.Erst Erweitern, dann Eingrenzen
In sämtlichen Kreativitätstechniken ist ein Kernthema die Trennung von divergierenden und konvergierenden Aktivitäten. Also von der Sammlung (Erweiterung) von Ideen/Problemen im ersten Schritt und der Auswahl (Eingrenzung) von Ideen/Problemen im anschließenden Schritt. Der Grund dafür liegt darin, dass man mit der größeren Quantität auch eine Steigerung der Qualität erreicht. Umso mehr Auswahlmöglichkeiten man hat – auch gerne völlig absurde Ideen, kann man sich durch Ergänzung, Symbiose oder Fokussierung besser auf eine qualitativere Lösung konzentrieren. Hat man lediglich wenig Ideen zur Auswahl, ist man von vornherein beschränkt.
Diese beiden Aktivitätstypen finden wir auch in den beiden Spaces wieder:
In den Phasen Empathize und Define wird im Design Thinking der Problemraum geöffnet, Themen gesammelt – bei einer klassischen Kundensituation dessen Sorgen, Nöte und Wünsche. Beim Übergang von Define zu Point of View wird der Problemraum mehr und mehr geschlossen, um sich auf wenige, wichtige Problemstellungen zu konzentrieren.
In der Ideate-Phase wird nun der Lösungsraum beschritten und geöffnet. Hier geht es wieder darum, möglichst viele Auswahlmöglichkeiten zu generieren, die dann in der Prototype- und Test-Phase mehr und mehr eingegrenzt werden.
Diese Abfolge von Erweitern und Eingrenzen in den beiden Bereichen Problem und Lösung nennt man den Double-Diamond des Design Thinking. Letztlich geht der Kerngedanke in die gleiche Richtung wie die Walt-Disney-Methode, bei der explizite Rollen für diese beiden Sichtweisen existieren, die abwechselnd eingenommen werden.
SCAMPER und andere kreative Helferlein
Bei den divergierenden Aktivitäten – gerade im Lösungsraum – kann man sich zum Beispiel der Methode SCAMPER (Substitute, Combine, Adapt, Modify, Put to another use, Eliminate parts, Replace parts) bedienen. Sobald man eine erste Ideensammlung hat, kann man mit dieser Methode schnell Spin-offs generieren, die in ihrer Kombination neue Räume erschließen. Hier bieten sich aber genauso Methoden wie „Kopfstand„, „6-3-5“ oder Ähnliche an.
Design Thinking und Retrospektiven – wie verbinde ich das nun?
Bei der Vorbereitung einer Großgruppenmoderation bin ich über das Thema Retrospektivengestaltung gestolpert und habe dabei erstmals die Analogien der beiden Vorgehensweisen für mich entdeckt und seither erfolgreich eingesetzt. Im Prinzip ersetzt man lediglich die Phasen 2-4 von Derby und Larsen durch den Double Diamond.Das heißt, man startet wie gewohnt mit dem Schritt Set the stage. Danach kann man den Problem Space betreten und kritische Punkte sammeln. Dies kann man nach einem ersten Durchlauf mittels Brainwriting (jeder sammelt still Problempunkte z.B. auf PostIts) und Präsentation durch weitere Iterationen ergänzen, indem man z.B. einen Kopfstand („Wie machen wir die Situation noch schlimmer, als sie bereits ist?“) durchführt.
Da die meisten Retrospektiven mit einer begrenzten Zeitdauer kämpfen – man sich also auf die drängendsten Probleme konzentrieren muss, bleibt der Gruppe nur der schwierige Weg des Aussortierens übrig. Letztlich ist dies eine Frage von Zeit und der Selbsteinschätzung, wie viele Themenstränge sich die Gruppe zutraut, anzugehen. Bei regelmäßigen Retrospektiven empfiehlt es sich, am Ende der Retrospektive über eine Wiedervorlage der abgewählten Themen abzustimmen.
Im Anschluss erfolgt die Analyse der Problemstellungen, um die Sachverhalte genauer zu verstehen. Hier gilt es, die sicher auftauchenden Lösungsvorschläge zwar nicht abzuwürgen, sie aber auf die anschließende Arbeit im Lösungsraum zu verschieben.
Von der Problemarbeit zur Lösung
In der Folge beschäftigt sich die Gruppe mit der Lösungsfindung. Gerade hier ist ein typisches Verhalten in Diskussionsgruppen zu beobachten – es ist das Auftauchen der „Ja, aber…“-Typen. Man kennt das sicher: Sobald eine neue Idee skizziert wird, begegnet einem eine Person mit dem Satz der Kategorie: “ Ja, das ist ein klasse Idee, aber das geht wegen[…] nicht!“
Dieses Muster ist in unserem Verhalten so eingebrannt, dass diese Reaktionen nahezu unvermeidlich sind. Hier gilt es als Facilitator, die Einhaltung von zunächst divergierenden und erst anschließend konvergierenden Aktivitäten zu betonen und einzufordern.
Mit einem SCAMPER-Ansatz kann man dann den Lösungsraum noch erweitern, um eine möglichst große Auswahl an Problemlösungsansätzen zu erhalten.
Da man i.d.R. als Gruppe nicht alle Lösungsansätze angehen kann und einige aller Voraussicht nach im Bereich Wolkenkuckucksheim liegen, gilt es, die sinnvollsten Lösungsansätze zu priorisieren und sich eine realistische Menge an Action Items vor die Brust zu nehmen.
Mit dem Abschluss des Double Diamond hat man nun auch das gewünschte Ergebnis einer Retrospektive: Konkrete Action Items, die einer Verbesserung der Situation dienen sollen. Zum Abschluss kann man die Phase 5 von Derby/Larsen anschließen und die Retro abschließen.
Abschließende Gedanken
Da die beiden Vorgehensweisen in meiner Wahrnehmung in so unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden, habe ich diese offensichtliche Analogie bisher nicht gesehen. Ich halte die Ideen hinter den Phasen Gather Data, Getting Insights, und Decide what to do nahezu identisch zu den Schritten im Design-Thinking.
Mir hilft die strikte Trennung von Lösungs-/Problemraum einerseits und von divergierenden und konvergierenden Tätigkeiten andererseits in der Moderation und Strukturierung von Retrospektiven. Die Retrospektiven arten nicht mehr in „Schwatzbuden“ oder „Auskotzrunden“ aus, sondern sind ein Ort der Ermittlung drängender Problemen, Ursachenforschung und sinnvollen Lösungen zur Situationsverbesserungen. Und das ist letztlich auch eine Kernidee von Design Thinking:
„Design Thinking ist eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen aus allen Lebensbereichen“
Was kommt demnächst?
In den nächsten Iterationen möchte ich noch die Phasen Empathize und Define methodisch konkretisieren und weiter ausbauen und ausprobieren. Eine Fortsetzung kommt also bald!